Disco-Morde bzw. Anhalterinnen-Morde

Die Spur der verschwundenen Mädchen

Zwischen 1977 und 1986 ist es im Elbe-Weser-Dreieck zwischen Cuxhaven und Bremerhaven zu einer bis heute unaufgeklärten Mordserie gekommen, bei der junge Frauen spurlos verschwanden – meist als Anhalterinnen nach Diskothekenbesuchen. Die Disco-Morde, auch als Anhalterinnen-Morde bezeichnet, beschäftigen die Polizei bis heute – und könnten mit Kurt-Werner Wichmann im Zusammenhang stehen. Er kannte sich in dieser Region aus, mehr als 20 Frauen berichten von unheimlichen Begegnungen im Cuxland. Viele davon sind sich sicher, dass es Kurt-Werner Wichmann war, der sie bedrängt hat.

1. Anja Beggers (16)

Die Serie begann mit einem Mädchen aus Midlum, das zum ersten Mal eine Diskothek besuchen wollte. Anja Beggers war 16 Jahre alt und lebte mit ihrer Familie auf einem Bauernhof bei Cuxhaven. Am Abend des 7. Oktober 1977 fühlte sie sich zunächst krank und wollte früh ins Bett gehen. Doch dann klingelte ein 18-jähriger Nachbarsjunge an der Tür und lud sie in die Diskothek „Moustache“ in Bremerhaven ein.

„Mama, ich fahre noch auf einen Sprung weg“ – das waren Anjas letzte Worte an ihre Mutter Inge Beggers, als sie um 21 Uhr das Elternhaus verließ. In der Diskothek angekommen, zog der Nachbarsjunge gegen 22:30 Uhr mit zwei Kollegen weiter in eine andere Diskothek. Als er um etwa 23 Uhr zurückkehrte, war Anja Beggers verschwunden. Niemand hatte gesehen, ob sie von einem Mann angesprochen wurde oder ob sie nach Hause trampen wollte.

Die Polizei nahm zwar eine Vermisstenanzeige auf, suchte aber weder intensiv nach Anja Beggers noch behandelte sie den Vermisstenfall mit der gebotenen Ernsthaftigkeit – ein schwerwiegendes Versäumnis, wie sich bald zeigen sollte, denn die Serie der verschwundenen Mädchen im Cuxland nahm mit Anja Beggers gerade erst ihren Anfang.

2. Angelika Kielmann (18)

Genau acht Monate nach Anja Beggers verschwand schon die nächste junge Frau. Angelika Kielmann aus Cuxhaven-Sahlenburg arbeitete als Verkäuferin in einer Konditorei. Der 7. Juni 1978 war ein Mittwoch, ein Tag, an dem sie mit ihrer Schwester ausging. Nachmittags besuchten sie ihren Großvater, abends fuhren sie nach Cuxhaven und gingen in die Discothek „Zur Börse“.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit ihren Schwestern per Anhalter fuhr. Meistens mittwochs und samstags ging es in die Disco, und fast immer fuhren sie auch zusammen mit ihrer Schwester zurück. An dem Abend aber brachen sie getrennt auf, ihre Schwester sah noch, dass Angelika um 23 Uhr die Disco verließ. Zeugen berichteten später, sie hätten Angelika beim Trampen gesehen. Zu Hause kam sie nie an.

Im Jahr 2024 schrieb eine anonyme Frau in einem Internet-Forum, mit Angelika befreundet gewesen zu sein. Sie berichtete von einem Vorfall aus dem Jahr 1977, als ein Mann ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren. Während der Fahrt sei er aufdringlich geworden, sie habe sich gewehrt und ihm das Gesicht zerkratzt. Als sie später Fotos von Kurt-Werner Wichmann sah, war sie sich sicher, dass er ihr 1977 beim Trampen von Cuxhaven nach Sahlenburg an die Wäsche wollte.

3. Anke Streckenbach (18)

Anke Streckenbach war ebenfalls 18 Jahre alt und angehende Kindergärtnerin in Cuxhaven. Am Abend des 16. Mai 1979 besuchte Anke ebenfalls die Diskothek „Zur Börse“ in Cuxhaven. Oft ist im Internet bei Kielmann und Streckenbach die Disko „Container“ genannt. Die befand sich in unmittelbarer Nähe. Gegen Mitternacht verließ Anke das Lokal und wollte per Anhalter nach Hause fahren. Wie die beiden jungen Frauen zuvor wurde auch sie nie wieder gesehen.

Mit Anke Streckenbach war für die Polizei klar: Von Zufall konnte keine Rede mehr sein. Drei junge Frauen waren nach Diskobesuchen spurlos verschwunden, alle in derselben Region (Cuxhaven und Bremerhaven), alle vermutlich als Anhalterinnen unterwegs.

4. Andrea Martens (19)

Andrea Martens aus Sellstedt besuchte am 30. November 1980 ihren Freund in der US-Kaserne Garlstedt. Der junge Soldat leistete dort den Wehrdienst ab, das Paar wollte sich unbedingt sehen. Sie verbrachten dort einige Stunden zusammen. In der Zeit zwischen 23.45 und 0.20 Uhr soll sie die Kaserne verlassen haben. Der letzte Bus ist schon weg, ihr bleibt nur zu trampen. Ob sie das wirklich gemacht hat, weiß die Polizei nicht.

Das letzte Mal wurde Andrea gesehen, als sie die Kaserne verließ. Vermutlich stieg sie zu jemandem ins Auto – und verschwand für immer. Die Polizei verfolgten diesen Fall bis in die USA, ließen FBI-Beamte den Freund vernehmen – der hatte aber ein wasserdichtes Alibi. Es gab nie Zeugen, keine Leiche und keine verwertbaren Hinweise.

5. Christina Bohle (15)

Christina „Tina“ Bohle war erst 15 Jahre alt und lebte mit ihrem Bruder Michael und der Mutter Barbara in Bremerhaven. Sie war ein Paradox in Person: ein sehr gläubiges Mädchen, das den Punk liebte, ein selbstbewusstes, freches Kind, das täglich mit Gott sprach. Im Tagebuch vermerkte sie im Juli 1981: „Gott meint es gut mit mir. Wenn ich mir etwas von ihm wünsche, erfüllt er es.“ Im Mai 1982 schrieb sie noch darin: „Ich möchte lieben und Frieden schaffen“.

Am Freitag, dem 13. August 1982 machte sich Christina mit der Mutter und ihrem Bruder Michael auf den Weg zur Diskothek „Kasba“ in Heerstedt. Gegen 22.30 Uhr verabschiedeten sich Mutter und Bruder. Die Mutter möchte auch ihre Tochter mitnehmen, Christina wollte allerdings noch bleiben, auch um sich mit ihrem damaligen Freund auszusprechen. Die beiden trennen sich auch an diesem Abend. Gegen 2 Uhr nachts wurde Christina Bohle nochmal im Garten der Disko gesehen, sie rauchte eine Zigarette. Seitdem fehlt jede Spur.

Nach ihrem Verschwinden erhielt die Familie wochenlang seltsame Anrufe, bei denen niemand sprach. Aus Frankreich kam eine mysteriöse Postkarte mit „den besten Grüßen an Tina“. 31 Jahre später, im Jahr 2013, ließ Bruder Michael sie dann offiziell für tot erklären.

6. Jutta Schneefuß (24)

Jutta Schneefuß aus Loxstedt war 24 Jahre alt und Mutter einer fünfjährigen Tochter namens Xenia. Anders als die anderen Opfer war sie keine Teenagerin mehr, sondern eine erwachsene Frau. Sie war dafür bekannt, häufig zu trampen. Am 13. Juni 1986 wollte sie gegen 19:30 Uhr per Anhalter von Loxstedt nach Bremerhaven fahren.

Wahrscheinlich im Bereich Hohewurth verlor sich die Spur der 1,72 m großen Frau, die unter einem Auge und am rechten Oberarm tätowiert war. Sie trug eine Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihr.

Ihre Tochter Xenia Schneefuß verfolgt aus München die mögliche Verbindung zum Serienmörder Kurt-Werner Wichmann: Zwar habe sie an ihre Mutter kaum noch Erinnerungen, dennoch begleite sie das Schicksal bis heute. 2024 berichteten zwei Frauen aus Düring bei Loxstedt, sie seien in demselben Jahr 1986 Kurt-Werner Wichmann begegnet – in der Nähe zu dem Ort, an dem Jutta Schneefuß verschwand.

7. Irene Warnke (19)

Irene Warnke aus Ringstedt war das einzige Opfer dieser Serie, dessen Leiche jemals gefunden wurde. Die 19-jährige Abiturientin war am 23. August 1986 zu Fuß auf den Weg von der Diskothek „Momo“ in Bad Bederkesa nach Lintig. Sie kam nie dort an.

Am 1. September 1986 wurde ihre Leiche in einem Wassergraben an der Landstraße 120 zwischen Bad Bederkesa und Lintig entdeckt.

Der erweiterte Kreis: Uta Flemming (17)

Möglicherweise gehört auch Uta Flemming (17) aus Osterholz-Scharmbeck zu den Opfern dieser Serie. Sie verschwand am 3. Juli 1985 spurlos, als sie mit dem Fahrrad zu einer Freundin fahren wollte.

2016 wurde der Fall in der Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“ vorgestellt. Ein Zeuge meldete sich darauf, der 1985 ein solches Fahrrad in einem See auf dem Truppenübungsplatz in Schwanewede (Lützow-Kaserne) gefunden hatte – möglicherweise Utas Fahrrad. Die Ermittler gehen davon aus, dass das Fahrrad nach der Tat dort versenkt wurde. 2023 suchte die Polizei nach einem Mann, der 2016 in der Nähe des Fundortes gesehen wurde, konnte ihn identifizieren, doch der konnte keine sachdienlichen Hinweise geben.

Disco-Morde oder Anhalterinnen-Morde in Cuxhaven und Bremerhaven (Elbe-Weser-Dreieck). War Kurt-Werner Wichmann der Täter?
Die Opfer der Disco-Morde und Kurt-Werner Wichmann als möglicher Täter

Verbindung zu Kurt-Werner Wichmann

Die Verdachtsmomente gegen Kurt-Werner Wichmann als wahrscheinlichen Täter der Disco-Morde im Elbe-Weser-Dreieck haben sich in den letzten Jahren verdichtet, denn mehrere relevante Faktoren sprechen für seine Täterschaft:

  • Geografische Nähe: Die Tatorte liegen nur etwa 120 Kilometer von Wichmanns Operationsbasis in Lüneburg entfernt, eine Strecke, die er als sehr mobiler Täter mit jährlich 30.000 Kilometern Fahrleistung problemlos bewältigen konnte.
  • Zeitliche Komponente: Nach seiner Haftentlassung 1975 zog er in die Nähe von Karlsruhe und Heidelberg, nur einen Monat später begann dort eine Mordserie an Anhalterinnen, die dort just zu der Zeit endete als er spätestens Anfang 1978 zurück nach Lüneburg zog. Im Oktober 1977 schloss sich praktisch nahtlos diese neue Serie an, in der Anhalterinnen nach Disco-Besuchen spurlos verschwanden.
  • Berufliche Verbindung: Seit 1970 arbeitete Kurt-Werner Wichmann als Auslieferungsfahrer eines Lüneburger Unternehmens in dieser Region zwischen Cuxhaven und Bremerhaven. Dies verschaffte ihm nicht nur Ortskenntnis, sondern auch einen unauffälligen Grund für seine regelmäßige Anwesenheit dort in der Region.
  • Zeugenaussagen: Nach Medienberichten in Cuxhaven und Bremerhaven meldeten sich 22 Hinweisgeberinnen, die berichteten, Kurt-Werner Wichmann begegnet und teils von ihm sexuell bedrängt und auch vergewaltigt worden zu sein. Alle in bemerkenswerter Nähe zu den hier geschilderten Tatorten – ein sicheres Zeichen, dass er hier aktiv war und Verbrechen beging.
  • Modus Operandi: Auch die Hinweisgeberinnen sprach er aus dem Auto heraus an, verfolgte sie, bot an, sie mitzunehmen oder nahm Anhalterinnen mit, die ihm aber entkommen konnten.

Disco-Morde: Todesspur entlang der A27

Ermittler sprechen heute von einer „Todesspur entlang der A27“, jener Autobahn, die vom Autobahndreieck Walsrode in Richtung Bremen bis nach Cuxhaven führt. Die geografische Verteilung der Mordserie folgt praktisch genau dem Verlauf dieser Verkehrsverbindung.

Hatte Kurt-Werner Wichmann, der sich im Cuxland offensichtlich sehr gut auskannte, vielleicht entlang dieser Route einen „Ankerpunkt“, z.B. familiäre Verbindungen, eine Freundin, Wohnung oder Ähnliches?

Die Ermittlungspannen und verpassten Chancen

Wie bei anderen „Cold Cases“ dieser Zeit werfen auch die Disco-Morde Fragen zur damaligen Ermittlungsarbeit auf. Mehrere Frauen, die Kurt-Werner Wichmann begegnet waren und ihm entkommen konnten, berichteten damals der Polizei von ihren Erfahrungen – erfolglos.

Die forensischen Möglichkeiten der 1970er und 1980er Jahre waren im Gegensatz zu heute deutlich limitierter. DNA-Analyse stand noch nicht zur Verfügung, die Spurensicherung war weniger präzise. Das Profiling, die operative Fallanalyse steckte noch in den Kinderschuhen.

2022 wurde der Fall Anja Beggers erneut in „Aktenzeichen XY“ gezeigt, nachdem ihre Mutter Inge Beggers nicht aufgegeben hatte. Auch noch 45 Jahre nach dem Verschwinden gab es neue Hinweise – aber offenbar ohne den ganz großen Durchbruch.

Gab es einen Mittäter bei den Disco-Morden?

War Kurt-Werner Wichmann wirklich für die Disco-Morde in Cuxhaven und Bremerhaven verantwortlich, nahm er sein Geheimnis mit in den Tod und auch die Antwort auf die Frage, ob es einen Mitttäter gab?

Nichtsdestotrotz ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein Mittäter Kurt-Werner Wichmann etwa bei der Ablage der toten Frauen unterstützte. Da die Frauen nie gefunden wurden, spricht dies möglicherweise für einen schwierig erreichbaren Ablageort.

Ermittlungsperspektiven

Fraglich ist nach wie vor, ob alle Mädchen der Disco-Morde demselben Täter zum Opfer fielen, obwohl vieles dafür spricht. Da lediglich Irene Warnke aufgefunden wurde, gibt es von den anderen Frauen keinerlei verwertbare Spuren, die zur Aufklärung führen könnten.

Im Fall Irene Warnke gibt es allerdings eine Spur, die einen Ansatz für weitere Ermittlungen bietet und dabei helfen könnte, einen Täter oder Mittäter der Disco-Morde zu überführen.

Es bleibt spannend, ob die Disco-Morde nach fast 50 Jahren noch aufgeklärt werden können. Den Opferfamilien wäre dies zu wünschen.

Podcast zu den Disco-Morden

Anne Kunze im ZEIT-Verbrechen-Podcast zu Anja Beggers (Folge 118) „Per Anhalter in den Tod“:

Per Anhalter in den Tod | Kriminalpodcast “ZEIT Verbrechen”


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