Mordfall Irene Warnke

In der Nacht vom 23. auf 24. August 1986 hat sich die 19-jährige Abiturientin Irene Warnke aus Ringstedt (Landkreis Cuxhaven) zu Fuß von der Diskothek „Momo“ in Bad Bederkesa zur Disco „Roes“ in Lintig auf den Weg gemacht, wird dort aber nie ankommen. Ihr Tod reiht sich in eine ganze Serie ungeklärter Verbrechen, die heute als „Disco-Morde“ bekannt sind und möglicherweise mit Kurt-Werner Wichmann in Verbindung stehen.

Irene Warnke bildet das letzte Opfer der Disco-Morde und ist zugleich die einzige gefundene der Serie der vermissten Mädchen
Irene Warnke († 23.08.1986)

Die Tat und der Tatort

Nachdem ihre Eltern sie als vermisst meldeten, leitete die Polizei eine großangelegte Suchaktion ein. Am 1. September 1986 – nach mehr als einer Woche intensiver Suche – wurde sie tot in einem Wassergraben an der Landstraße 120 zwischen Bad Bederkesa und Lintig entdeckt. Sie lag kopfüber im Schlamm, hinter einer Böschung in der Nähe einer Brücke über den Bederkesa-Geeste-Kanal.

Die rechtsmedizinische Untersuchung zeichnet ein grausames Bild der letzten Minuten von Irene. Ihr wurde von hinten mit einem schweren, stumpfen Gegenstand – vermutlich einem Knüppel – mehrmals auf den Hinterkopf geschlagen worden. Sie hatte auch Verletzungen am vorderen Hals. Unklar ist, ob sie durch die Schlagwirkung oder durch das Würgen das Bewusstsein verlor. Doch nicht der Schlag führte zum Tod. Sie stürzte – vermutlich bewusstlos – in den Wassergraben, wo sie zwischen Schlamm und Entengrütze ertrinkt. Es ist aber auch möglich, dass der Täter sie in den Graben geschleift hat. Anders als bei anderen Fällen der Mordserie konnte diesmal ein Leichnam gefunden werden und zugleich sicher ein Sexualdelikt ausgeschlossen werden – ebenso ein Raubmotiv, da Geld bei der Toten gefunden wurde.

Irene Warnke als Teil der „Disco-Morde“

Der Fall Irene Warnke ist einer von sieben ungeklärten Verbrechen, die als „Disco-Morde“ oder als „Anhalterinnen-Morde“ bezeichnet werden, zwischen 1977 und 1986 verschwanden sechs junge Frauen im Elbe-Weser-Dreieck nach Diskothekenbesuchen spurlos, am

  • 07.10.1977 Anja Beggers (16) aus Midlum
  • 07.06.1978 Angelika Kielmann (18) aus Cuxhaven
  • 16.05.1979 Anke Streckenbach (19) aus Cuxhaven
  • 30.11.1980 Andrea Martens (19) aus Garlstedt
  • 14.08.1982 Christina Bohle (15) aus Bremerhaven
  • 13.06.1986 Jutta Schneefuß (23) aus Loxstedt

Irene Warnke ist das einzige Opfer, dessen Leiche je gefunden wurde.

Der pensionierte Kriminaldirektor Eckhard Neupert, der diese Fälle damals untersuchte, geht bei den „Disco-Morden“ von einem Serientäter aus: „Ich weiß es nicht, aber der Gedanke drängt sich geradezu auf“.

Die Todesspur entlang der A27

Ermittler sprechen heute von einer „Todesspur entlang der A27“, jener Autobahn, die vom Autobahndreieck Walsrode in Richtung Bremen nach Cuxhaven führt. Die geografische Verteilung der Mordserie folgt praktisch genau dem Verlauf dieser Verkehrsverbindung. Hatte Kurt-Werner Wichmann, der sich im Cuxland offensichtlich gut auskannte, vielleicht irgendwo entlang der Route einen „Ankerpunkt“.

Bedeutsam ist Wichmanns berufliche Tätigkeit als Auslieferungsfahrer ab 1970. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Lüneburger Unternehmens schilderte, dass Kurt-Werner Wichmann sehr regelmäßig Touren in die Region zwischen Cuxhaven und Bremerhaven fuhr. Dadurch hätte er nicht nur die notwendige Ortskenntnis gehabt, sondern zugleich einen unauffälligen Grund für seine regelmäßige Anwesenheit in der Region.

Forensische Herausforderungen

Der Fall Irene Warnke verdeutlicht die forensischen Limitierungen der 1980er Jahre. Anders als heute stand der Polizei keine DNA-Analyse zur Verfügung, und die Spurensicherung war deutlich weniger präzise. Der Fundort der Leiche, ein Wassergraben mit „Entengrütze“, war für die Spurensicherung damals denkbar ungünstig, da Wasser und diese organische Substanzen viele Spuren vernichten.

Moderne Analyseverfahren könnten heute mutmaßlich wichtige neue Erkenntnisse bringen. Doch wie bei anderen – möglichen – Wichmann-Fällen sind Asservate heute nicht mehr auffindbar oder wurden nach seinem Tod 1993 sogar vernichtet – eine Praxis, die heute als verhängnisvoll eingestuft wird.

Kurt-Werner Wichmann als Tatverdächtiger

Jahrzehntelang blieben die „Disco-Morde“ unaufgeklärt – bis der Name Kurt-Werner Wichmann ins Spiel kam. Der 1949 in Lüneburg geborene und 1993 in Haft verstorbene Friedhofsgärtner gilt für diese Mordserie als verdächtig, aber die Aufklärung gestaltet sich schwierig. Entweder wird er von den „Cold Case“-Ermittlern als Täter von vornherein ausgeschlossen oder zumindest nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Bislang ist sein DNA-Profil auch nicht in der DNA-Analysedatei (DAD) abrufbar, sondern nur manuell bei der EG Göhrde in Lüneburg abrufbar. Folglich muss Kurt-Werner Wichmann überhaupt erst von den Ermittlern aktiv als Täter in Betracht gezogen werden, „Kommissar Zufall“ hilft nicht.

Die Verbindung von Kurt-Werner Wichmann mit den Disco-Morden ist aus mehreren Gründen plausibel: Geografisch liegen die Tatorte etwa 120 Kilometer von Wichmanns Operationsbasis in Lüneburg entfernt – eine Strecke, die er als extrem mobiler Täter mit jährlich ca. 30.000 km Fahrleistung problemlos hätte bewältigen können. Zeitlich fallen diese „Disco-Morde“ in eine Phase, in der Wichmann nachweislich aktiv war. Überdies arbeitete Wichmann seit 1970 als Auslieferungsfahrer für ein Lüneburger Unternehmen genau in der Region der Mordserie.

Neue Zeugenaussagen verdichten den Verdacht

In den letzten Jahren haben sich mehrere Frauen gemeldet, die davon überzeugt sind, Wichmann in der Elbe-Weser-Region begegnet zu sein. Insgesamt kamen 22 Hinweise aus dem Cuxhavener Umland:

Eine Frau berichtete, dass sie 1977 – wenige Monate vor dem ersten Disco-Mord – von einem Mann angesprochen wurde, der ihr anbot, sie nach Hause zu fahren. Als er während der Fahrt aufdringlich wurde, konnte sie sich durch Gegenwehr und das rechtzeitige Eintreffen ihres Bruders retten. Sie habe sich gewehrt und ihm das Gesicht zerkratzt, berichtete sie später. Als sie Jahrzehnte später in den Medienberichten Fotos von Kurt-Werner Wichmann sah, war sie sich sicher: „Er ist der Mann, der mir 1977 beim Trampen von Cuxhaven nach Sahlenburg an die Wäsche wollte.“

Eine andere Frau, heute 59 Jahre alt, berichtete von einem Vorfall aus dem Spätsommer 1977, als sie in Wehden von einem Mann mit dem Fahrrad verfolgt wurde. Auch sie identifizierte Wichmann eindeutig.

Von zentraler Bedeutung: Die Cuxhavenerin, die vermutlich im Herbst 1977 zu Kurt-Werner Wichmann ins Auto gestiegen ist, glaubt sogar, ihn schon mal vorher gesehen zu haben – auf einem Discoabend der Tanzschule Beuss. Ein Detail, das zum systematischen Vorgehen von Wichmann passen würde.

Modus Operandi: Parallelen zu anderen Taten

Die Vorgehensweise bei den Disco-Morden und auch bei Irene Warnke weist charakteristische Merkmale auf, die zu Wichmanns bekanntem Modus Operandi passen. Er suchte sich gezielt junge, attraktive Frauen aus, die allein unterwegs waren – meist nach Diskobesuchen, wenn sie sich in einer verletzlichen Situation befanden. Seine Taktik war es, als harmloser Autofahrer eine Mitfahrgelegenheit anzubieten.

Im Fall Irene Warnke gibt es ein weiteres charakteristisches Merkmal: der gezielte Schlag auf den Hinterkopf mit stumpfem Gegenstand. Die Tötungsmethode entspricht Wichmanns Vorgehensweise bei anderen dokumentierten Fällen. Auch die Tatsache, dass er Opfer im Wasser ertrinken ließ, passt zu anderen Verdachtsfällen.

Ermittlungspannen und verpasste Chancen

Wie bei vielen anderen Wichmann-Fällen werfen auch die Disco-Morde Fragen zur damaligen Ermittlungsarbeit auf. Trotz der offensichtlichen Parallelen zwischen den Fällen, junge Frauen, die nach Diskobesuchen verschwanden, wurden diese lange Zeit nicht als zusammenhängende Serie erkannt. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf örtliche Täter und übersahen offenbar die überregionale Dimension der Morde.

Besonders fatal: Mehrere Frauen, die Wichmann begegnet waren und ihm entkommen konnten, schilderten damals auch der Polizei ihre Erfahrungen. Doch diese Hinweise wurden nicht ernst genug genommen und nicht verfolgt oder nicht miteinander in Verbindung gebracht. Eine Frau berichtete sogar, dass die Polizei gar nicht erst ausrückte, als sie einen nächtlichen Übergriff meldete, mit dem Hinweis, „ob sie nicht wisse, in welcher Gegend sie wohne“.


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